8.1 Ohnmacht, Reformstau, Chancen

Der Nationalstaat hat die Grenzen geöffnet, und jetzt sind sie offen. Was nicht bei ihm bleiben will, fließt weg wie Wasser aus einem Sieb. Die Marktwirtschaft explodiert in den gesetzesleeren Raum. Die Marktteilnehmer folgen. Und kein Nationalstaat kann sie zurückzwingen in nationalstaatliche Enge und nationalstaatliche Gängelei. Den Staaten mit hoher Steuerlast fließen die Gewinne einfach weg. Oder die Steuerzahler laufen ihnen davon.
Das ist das teuflische Flußdiagramm der Globalisierung: Für die Erste Welt, die entwi-ckelten Industriestaaten, bedeutet es, die Arbeit fließt weg, die Gewinne fließen weg und die Einkommen fließen weg. Die Reichen und ihre Vermögen verschwinden. Die Zahl der Arbeitslosen und die der unerwünschten Flüchtlinge jedoch wächst. Die sozialen Kosten steigen. Die Staatsaufgaben und die Staatsausgaben bleiben dem Nationalstaat, den Regionen und den Kommunen uneingeschränkt erhalten: Verkehr, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Heer, Schuldendienst und das Sozialsystem eines modernen Staates. Doch seine Steuereinnahmen sinken. Die Staatsverschuldung wächst. Mittel und Rezepte auf nationaler Ebene gegen dieses Fließen von Kapital und Menschen gibt es nicht. Die Grenzen schließen für Menschen und Kapital: Das kann man nicht (WTO). Das will man nicht.

8.2 Reformfähigkeit und Reformwillen des Nationalstaats


Rascher Wandel erfordert Entscheidungen. Entscheidungen erfordern starke politische Handlungsträger, die nicht ständig auf die Wähler und die nächsten Wahlen schielen müssen. Große Reformen und zukunftsträchtige Projekte erfordern starke Regierungen, die sich gegen übermäßigen Gruppenegoismus durchsetzen können. Visionäre Projekte (Auf- und Ausbau der Europäische Union, Raumfahrt, Grundlagenforschung) und die großen Reformen aber kosten Geld und gehen zu Lasten anderer Aufgaben, also zu Lasten auch der sozialen Aufgaben. Sie benachteiligen in dieser oder jener Form gesellschaftliche Gruppen.
Den Reformwillen der verantwortlichen Politiker sollte man nicht bezweifeln. Doch ziehen nicht alle am gleichen Strang, nicht mit gleicher Kraft und nicht in die gleiche Richtung. Reformen ja, aber jedem die seine! Der Finanzminister muß sparen. Linke Kräfte aber wollen den Sozialstaat stärken, rechte Kräfte fordern tiefe Steuern und mehr Geld für Lehre und Forschung. Pluralismus mindert die Reformkraft. Diktaturen und die Unternehmen auf Märkten haben es leichter. Flexibilität, Reformfähigkeit und Tempo stehen im Widerspruch zu Demokratie und Rechtsstaat.

8.2.1 Größere Reformkraft durch ein rollendes Wahlsystem


Ein „rollendes“ Wahlsystem könnte Kontinuität sichern und so die politische Arbeit erleichtern. Es würde mehr Stabilität, mehr Reformkraft und mehr Tempo in das Parla-ment tragen. „Rollend“ soll heißen, daß man Jahr für Jahr nur einen Teil der Abgeordneten neu wählt. Die (alte) Regierung bleibt zeitlich unbeschränkt im Amt, bis sie über das „konstruktive Mißtrauensvotum“ durch eine neue Regierung ersetzt wird.
Folgend wird dieser Gedanke an einem Beispiel durchgespielt: Jährlich wird in Deutschland ein Sechstel der Bundestagsabgeordneten neu gewählt. Die Wahlen werden möglichst mit den Länderwahlen zusammengelegt in der Weise, daß jährlich in einem Bevölkerungssechstel des Bundesgebietes Landtags- und Bundestagswahlen gleichzeitig stattfinden. Bei einer Bevölkerung von 84 Millionen Einwohnern sollte ein Wahlblock jeweils Ländergruppen mit etwa 14 Millionen Einwohnern erfassen.
So wird zum Beispiel in einem Jahr in Bayern und Hamburg gewählt, im anderen Jahr in Nordrhein-Westfalen und im dritten Jahr in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Gewählt wird dann jeweils das Landesparlament und daneben ein Sechstel des Bundesparlamentes. Die Wahlperiode für den einzelnen Abgeordneten wird auf sechs Jahre erhöht. …

8.2.2 Größere Entscheidungskraft durch das Mehrheitswahlrecht


Wenn kleinste Parteien zur „Parlamentsmehrheit“ gehören, über das Regierungsprog-ramm mitbestimmen und das Wahlprogramm einer weit größeren Partei, also den Wil-len der Wählermehrheit, deformieren können, dann ist etwas „faul im Staate Däne-mark“. So oder so, ob mit oder gegen die stärkste Partei, eine, zwei oder drei der klei-nen Parteien mit ihren je sechs oder acht Prozent Wählerstimmenanteil entscheiden über den Regierungskurs der nächste Jahre. (…)
Nicht nur das demokratische Prinzip wird verfälscht. Schlimmer noch ist, daß Regierungen, eingebunden in eine Koalition, Handlungsfähigkeit einbüßen. Sie können nicht mehr das, was sie können sollten: Sie können nicht kraftvoll regieren und reformieren.
Unter dem Reformdruck der Globalisierung braucht Deutschland weniger Artenvielfalt und dafür mehr Konzentration der Mittel und Möglichkeiten auf starke Regierungen. Deutschland braucht den sanften Übergang (…) zum Mehrheitswahlrecht.

8.2.7 Der unpolitische Auftrag des Bundesverfassungsgerichts


Das Bundesverfassungsgericht muß seine Aufgaben und seine Rolle überdenken. Das Gericht hat keinen politischen Auftrag. Regierungen und Parlamente müssen darüber nachdenken, was sie den Menschen zumuten dürfen. Es wäre vermessen und würde zu weit führen, Abgrenzungsvorschläge zu unterbreiten. Hier wird keck einzig die Frage gestellt, ob es angemessen ist und zu den Aufgaben des hohen Gerichts gehört, notwendige, ja unverzichtbare Reformen mit Argumenten wie Bestandswahrung oder Eigentumsschutz zu verhindern und sich so, gewollt oder ungewollt, in das politische Geschäft einzumischen.

10.0 Das nationale Steuerrecht greift nicht mehr


Die Spitzenverdiener rund um Sport und Fernsehen und andere Vermögende verlegen den Wohnsitz in Länder, wo die Sonne scheint und der Fiskus sie schont. Oder sie nutzen das Gesellschaftsrecht, um der nationalen Steuerlast zu entweichen. Das Bankkundengeheimnis erstarkt zur Staatsräson, und Steueroptimierung wird ein Gesellschaftsspiel, also ein Spiel der Gesellschaften.
Globalisierung erlaubt diese Zauberei. Ein grenz- und kontrollfreier Raum, der globale Kapitalmarkt mit dem undurchschaubaren Netzwerk: Blitzschnelle Operationen dank Internet, Steueroasen, Standortwettbewerb mit anderen Staaten, auch mit seriösen Staaten, die aus ihren Kolonialreichen noch ein paar Inseln oder „Stützpunkte“ haben retten können. Im Bunker der Privatrechtssphäre schlummern dort die Vermögen, geschützt durch das Bankkundengeheimnis. Im befreundeten Nachbarland gleich hinter der Grenze liegt der Steuerfahnder an der nationalen Kette. Nein, es macht keinen Spaß mehr, Finanzminister eines von Freunden umgebenen Staats zu sein.
Leider hat Deutschland aus seinem Kolonialreich nichts in die Globalisierung hinübergerettet. Aber man könnte, zusammen mit Rußland, aus Kaliningrad etwas machen: Russisch-Restpreußen mit der Hauptstadt Montroyal! Die Russen liefern das Territorium, den Seehafen, den Flughafen, die Briefkästen und den „Geheimdienst“. Die Deutschen liefern Technologie und den Datenschutz. Die Schweizer beteiligen sich mit Bankkundengeheimnis und Privatrechtssphäre samt Wealth Management und dem Know-how der Kundenakquisition. Montroyal könnte schon bald der Sitz der Deutschen Bank AG werden und auch anderen Finanzdienstleistern den weiten Weg in die Karibik oder nach Singapur ersparen. Es gibt eben immer zwei Möglichkeiten: Entweder man hat Exklaven oder Inseln und heult mit den Wölfen, oder man wird kahl gefressen. Deswegen der Begriff „Raubtierkapitalismus“. …

10.3.1 Unternehmensbesteuerung auf dem Umsatz statt auf dem Gewinn


Gegen die Besteuerung der Unternehmen nach Gewinn bestehen verfassungsrechtli-che Bedenken. (…)Den Verstoß gegen die Verfassung kann man vermeiden, wenn man für die Besteuerung der Unternehmen eine andere Bezugsgröße wählt, die weniger manipulierbar ist. Als Alternative zum Gewinn kommt nur der Umsatz in Frage. (…)
Die am Gewinn orientierte Unternehmensbesteuerung führt (…) zu einem eigenartigen Ergebnis: Gut geführte und erfolgreiche Unternehmen mit Gewinn werden mit einer Steuer bestraft. Schlecht geführte und erfolglose Unternehmen mit Verlust werden belohnt, indem der Staat von ihnen keine Unternehmenssteuer fordert. Ganz im Gegenteil: Wenn sie im nächsten oder übernächsten Jahr doch wieder verdienen, dürfen sie die Verluste der mißlichen Jahre und gleich auch noch die ihrer erfolglosen Konzernschwestern verrechnen. Gerecht ist das nicht. Auch die Erfolglosen nutzen voll die staatlichen Strukturen des Landes. Also sollten sie dafür bezahlen, so wie sie auch den Bezug von Wasser, Gas und Strom unabhängig vom Geschäftsgang bezahlen.
Das Steuerrecht muß auf das gewachsene Leistungsangebot der öffentlichen Hand ausgerichtet werden. Wer diese staatlichen Angebote nutzt, muß bezahlen, auch Un-ternehmen, die keinen Gewinn ausweisen. Alles andere würde bedeuten, daß Leistung bestraft und Versager auf dem Trittbrett gratis mitfahren dürfen. Auch die Mehrwertsteuer wird von Arm und Reich in gleicher Höhe erhoben. (…)